Mit der ME-Serie hat im 4. Quartal 2015 die münchener Firma Gigaset den Sprung in das Haifischbecken der Smartphonehersteller gewagt. Das Erstlingswerk soll hierbei im für Hersteller wohl schwierigsten Marktsegment überhaupt – der Oberklasse – die potentiellen Kunden von seinen Vorteilen überzeugen. Ein Blick auf das Datenblatt unterstreicht diese Ansprüche
Auf dem Papier scheint dies eine konkurenzfähige Ausstattung zu sein. Ob das Gerät auch im Alltag überzeugen und die Samsung-, LG- und Appleflaggschiffe herausfordern kann, konnte ich im Praxistest feststellen. Film ab:
Höflich formuliert: Da ist noch Platz nach oben. Während die Hardware größtenteils einen recht ordentlichen Eindruck hinterlässt, vergällen die vielen kleinen und größeren Softwareprobleme dem Nutzer schnell die Freude am Gigaset ME. Doch der Reihe nach:
Eine klare Stärke des Gerätes. Besonders der nicht spürbare Übergang zwischen dem Glas auf der Rückseite und dem Edelstahlrahmen hat mich völlig überrascht. Randinfo: Der Mensch kann mit dem Finger Kanten von etwa 0,01mm erspüren.
Auf der Vorderseite ist dieser Übergang nicht ganz so perfekt gelungen, was vermutlich dem 2,5D-Glas geschuldet sein dürfte. Nichts desto trotz spürt man beim Gigaset ME sofort, dass es ein Premiumgerät sein will. Sämtliche Bedienelemente, Anschlüsse und der SIM-Schacht sind sehr sorgfältig eingepasst. Der Edelstahlrahmen wirkt spürbar wertiger als vergleichbare Aluminiumgestelle. Allerdings führt er auch zu einem recht hohen Gewicht von 160g. Außerdem ist das Gerät überdurchschnittlich rutschig. Schon wenn es auf ein Softcoverbuch gelegt wird, das minimal schräg liegt beginnt das ME ein Eigenleben zu führen und hinabzugleiten.
Das 5-zöllige Full-HD-Display (1080 x 1920 Pixel) nutzt die bekannte IPS-Technologie und bringt deren typischen Stärken und Schwächen mit. Die Blickwinkelstabilität ist daher auf einem sehr hohen Niveau – es gibt nur geringe Aufhellungen oder Abdunklungen unter sehr extremen Blickwinkeln – der Schwarzwert hingegen ist zwar sehr solide, kann aber mit AMOLED-Displays nicht mithalten. Dafür wirken die Farben sehr natürlich. Positiv sei noch erwähnt, dass die Helligkeit sich in einem sehr guten Bereich steuern lässt – hell genug um auch draußen in der Sonne noch ablesbar zu sein, dunkel genug, um auch in absoluter Dunkelheit keinen Augenschaden zu riskieren.
Die Empfindlichkeit des Touchscreens wurde perfekt eingestellt. Wer schon einmal ein Gerät mit überempfindlichem Digitizer gehabt hat, der weiß wie nervig es sein kann Eingaben erkannt zu bekommen, nur weil der Finger einen halben Zentimeter über dem Screen schwebt. Ähnliches gilt natürlich auch, wenn man das Display streicheln muss, um überhaput erkannt zu werden. Solche Probleme kennt das Gigaset ME zum Glück nicht.
Die OnScreen-Tasten werden sicherlich dem Ein oder Anderen ein Dorn im Auge sein. Auf der anderen Seite: seperate Tasten unter dem Display würden vermutlich den optischen Eindruck des Gerätes schmälern. Und bei Videowiedergabe oder FullScreen-Spielen werden diese Tasten einfach ausgeblendet. Von daher: Halb so schlimm.
Der Snapdragon 810 gilt ein wenig als das ungeliebte Kind Qualcomms. Vor allem die Hitzeprobleme und das daraus resultierende Throtteling sorgten schnell für Spott im World Wide Web. Wie hat er sich denn nun im Test geschlagen? Antwort: Ordentlich. Sicherlich wird die suboptimale Software den größten Teil dazu beigetragen haben, aber ich hatte fast durchgehend das Gefühl, dass die Bedienung nicht so flüssig lief, wie auf anderen Geräten. Ruckler oder Hänger gab es zwar keine, jedoch wollte sich hier auch kein HighEnd-Gefühl einstellen.
Dennoch wird sich am Ende des Tages wohl niemand ernsthaft beschweren können, dass das Gerät zu langsam wäre. Apps, die solch einen SoC (System on a Chip, also eine Kombination aus CPU, GPU, etc) ausreizen sind – abgesehen von Benchmarks – einfach noch nicht erfunden.
Das runtertakten der maximalen Geschwindigkeit ist auch bei diesem Snappi 810-Smartphone zu beobachten. Von gut 68.000 Punkten im AnTuTu Benchmark aus dem „Ruhezustand“ bleiben nach einer guten halben Stunde Bloons TD5 noch gut 57.000 Punkte übrig. Auch Letztere reichen völlig aus. Das Gehäuse wird hierbei zwar spürbar warm, aber im noch angenehmen Bereich.
Hier wird es jetzt leider unschön. Allein die schiere Anzahl an Softwareproblemen verhindert, dass ich auf jeden einzelnen Punkt näher eingehen kann und will. Stattdessen werde ich diesesmal eine Listenansicht (in unsortierter Reihenfolge) bemühen:
Ich denke, dass ist schon eine recht lange Liste an Problemen, die mir mit dem ME begegnet sind – auch ohne, dass ich subjektive Dinge wie den fehlenden App-Drawer ansprechen muss. Hier hat Gigaset noch großen Handlungsbedarf.
Dennoch möchte ich noch ein paar positive Dinge erwähnen. So mag ich persönlich die Möglichkeit die Position der Softkeys im Menü ändern zu können. Der Taschenmodus verhindert ein versehentliches einschalten des Geräts, wenn der Annäherungssensor verdeckt ist. Auch einzelne Einstellungen im Launcher machen durchaus Spaß (z.B. verschiedene Übergangseffekte) und Sinn (das verstecken einzelner App-Symbole)
Falls ihr mein Review zum Allview P8 Energy gesehen habt, wisst ihr vielleicht, dass es mir der riesige Akku wirklich angetan hat. Um so schockierter war ich, als der Battery Benchmark, den ich meist vor Testbeginn laufen lasse, einen Wert von gerade einmal 10 Stunden ausgespuckt hat (der Schnitt liegt etwa bei 12 Stunden). Zum Glück konnte sich dieses Ergebnis im Alltag nicht bestätigen. Zwar ist das Gigaset ME kein Dauerläufer, aber als Normalnutzer muss man sich dennoch keine Sorge machen, dass man Nachmittags bereits an die Steckdose muss. Gefühlt würde ich die Laufzeit in etwa auf das gleiche Niveau setzen, welches auch im IPhone 6 zu finden ist.
Die Ladezeit liegt mit unter 2 Stunden für den Sprint von 10 auf 99% bei eingeschaltetem Display und minimaler Helligkeit im sehr guten Bereich. So kann zur Not schnell mal nachgetankt werden, falls die Energiereserven doch mal zur Neige gehen.
Die Bildqualität ist nicht wirklich schlecht. Aber das allein kann man ja schon als desaströses Urteil interpretieren für ein Gerät, welches (auch preislich) in der Oberklasse angreifen will. Gerade bei Makroaufnahmen zeigt der AutoFokus (für die Preisklasse) unerklärliche Schwächen. Weder wird die korrekte Stelle im Bild scharf gestellt (egal wie oft man auf den Bildschirm tippt), noch kann man wirklich auf „Makronähe“ an das Objekt ran.
Die Aufnahmen auf normale Entfernung sowie Landschaftsaufnahmen gelingen durchaus ansehnlich, jedoch nicht hochklassig. Seht selbst:
Zuletzt zeige ich hier noch ein Video, welches ich mit der Handycam aufgenommen habe. Die unglaublich schlechte Tonqualität kann ich hierbei nicht erklären, würde aber auf einen defekt tippen (ich habe noch eine zweite Aufnahme gemacht, mit dem selben Ergebnis. Einen Bedienfehler schließe ich daher aus). Das Mikrofon hat ein paar Tage vorher (bei der Testaufnahme weiter unten) jedenfalls noch einwandfrei funktioniert.
Der Fokus hatte zu Beginn große Probleme, nach ein paar Sekunden hat er sich dann eingespielt. Auch das war beim zweiten Versuch ebenso.
In den Grunddisziplinen schlägt sich das Gigaset ME teilweise nicht allzu gut. WLAN und mobile Daten müssen mit etwas unterdurchschnittlicher Empfangsqualität zurechtkommen (letzteres jedoch besser als das Medion X5020). Dafür ist der Mobilfunkempfang (Telefonie) recht stark – hier geben andere Geräte früher auf. Die Sprachqualität liegt nicht im Oberklassebereich, jedoch bleiben Gespräche auf beiden Seiten gut verständlich. Hier eine Testaufnahme auf einem Anrufbeantworter:
Beim Thema Navigation kann der Newcomer allerdings überzeugen. Nur leichte Abweichungen zu der gefahrenen Strecke sind feststellbar. Der Kompass ist sogar der vermutlich beste, den ich bisher gesehen habe.
Der IR-Blaster konnte aus allen Winkeln und aus einer Entfernung von über 10m meinen Fernseher noch problemlos ansteuern. Hier gibt es nichts zu beanstanden.
Der Fingerabdrucksensor funktioniert relativ zuverlässig (Schulnote 2-3 etwa). Jedoch braucht er gefühlt etwas länger als die Konkurrenzprodukte, um das Gerät zu entsperren.
Ein Smartphone auf den Markt zu bringen ist für jeden neuen Hersteller eine Herausforderung. Direkt in die Oberklasse einzusteigen umso mehr. Der Konkurrenzdruck der erfahrenen Global Player ist immens und man muss sich an deren Produkten messen lassen. Hier scheitert das Gigaset ME leider. Zwar bietet es mit dem Dual-SIM-Support in Verbindung mit der Verarbeitung, der Leistungsfähigkeit und der recht vollständigen Ausstattung eine einmalige Mischung auf dem Markt, die vielen Softwaremängel sowie die mäßige Kamera bei einer UPE von 469€ verhindern jedoch leider eine uneingeschränkte Kaufempfehlung.
3 Kommentare
Hallo Björn,
Bugs in diesem Ausmaß würde ich noch nicht mal bei einem Gerät für 169 € erwarten. Meiner Meinung nach ist dieses Gerät noch nicht ausgereift und sollte nicht auf den Markt gebracht werden um die Marke Gigaset im Smartphone-Bereich nicht zu beschädigen.
Hi Fitz,
akzeptieren würde ich diese Bugs auch auf einem 169€-Gerät (oder auch noch weit billigeren Geräten) nicht. Erwarten würde ich sie da aber sicherlich eher, als bei einem Gerät für fast 500€ (Ich hab ja schon einige größere Fehler in meinen Tests gefunden).
Die Software ist noch nicht marktreif, da stimme ich dir zu, hilft aber leider nichts mehr – das Gerät wird schon seit Ende letzten Jahres ausgeliefert. Bleibt nur zu hoffen, dass an den Problemen gearbeitet wird und der Markenname keinen langfristigen Schaden davon trägt.
Gruß Björn
Sind die Geräte eigentlich Made in China oder werden sie bei Gigaset in Bocholt geschraubt / gepustet? Schliesslich sind die Lohnkosten bei der Produktion nicht das entscheidende, sondern die Defektquote bzw. Rückläufer (na, bei der Software dann mal viel Spass… – @ Gigaset: Wer hat die Software denn freigegeben? Keiner getestet?)